Die sanfte Anmutung von Veränderbarkeit

von Lisa Felicitas Mattheis, Kunsthalle Emden

Gibt es wiederkehrende Strukturen, die auf andere Verhältnisse und Disziplinen übertragbar sind und sich immer wieder entsprechen? Sind Systeme flüchtig und wandelbar? Einen Essay mit diesen großen Fragen zu beginnen, mag bei den technoiden Wandgebilden von Roman Lang zunächst wie eine affektvolle Irreführung wirken. Ungegenständlich und ohne Narration scheinen die malerischen Objekte, vom Künstler teilweise als Shaped-Boards bezeichnet und damit auf die zumeist vieleckigen Bildtafeln aus handelsüblichem Holzplatten anspielend. Hier treffen farbige Flächen auf graue Linien, Acryl-Farbe auf Struktur-Sprüh-Lack und harte Kanten auf die Maserung des natürlichen und unbehandelten Holzes. Unweigerlich beginnt sich das Assoziationskarusell im Kopf zu drehen: Bezüge zum Konstruktivismus, zur Konkreten Kunst, zur Hard-Edge Malerei, scheinen in harmonischer Vielstimmigkeit genauso mitzuschwingen, wie Einflüsse von Graffiti, angewandtem Design und einer gewissen Do-it-yourself Baumarkt-Mentalität. High und Low stehen selbstbewusst nebeneinander.

 Subtil gesetzte Fehlstellen verwehren jedoch eine strenge Einreihung in eine kunsthistorische Tradition: eine vermeintliche Verbindungslinie läuft ins Leere, eine vorgetäuschte illusionistische Tiefe ergibt auf einmal keinen Sinn; an anderer Stelle wurde ein Spritzer Farbe auf dem ansonsten handwerklich perfekt ausgeführten Objekt genauso stehen gelassen wie die feine Bleistiftlinie einer Vorzeichnung. Was bleibt sind Irritation und offene Fragen: Wieso arbeitet der Künstler hier nicht konsequent und sauber? Genau an dieser Stelle kommt das Konstrukt ins Wanken. Die Werke von Roman Lang möchten keine perfekte illusionistische Täuschung oder eine abgeschlossene Vollkommenheit behaupten. Im Gegenteil, das Fragmentarische und das Prozessuale stehen hier im Zentrum und führen die Malerei sprichwörtlich vor. Roman Lang zerlegt diese klassische Kunstgattung in ihre Grundelemente aus Untergrund, Fläche, Linie, Farbe und fügt sie wieder neu zusammen.

 Der Künstler konstruiert ohne fixes Grundgerüst in Form eines feststehenden Vokabulars. Die Werke verweisen nicht auf externe Strukturen und visualisieren keine konkreten systemischen Begebenheiten.Allein das Sampling der klassischen künstlerischen Dualismen (positiv/negativ, Linie/Fläche, künstlich/natürlich) ermöglicht ein abstraktes, aber dennoch offenes Bezugssystem. In unterschiedlicher Variation ergeben sich so bildeigene Muster, Strukturen und Systeme, die sich durch eine eigene immanente Logik auszeichnen. Gleichzeitig aber schwebt über allem die sanfte Anmutung von Veränderbarkeit, mit der die kleinste Modifikation die „Erzählung“ des gesamten Bildes wandeln kann.

 Durch diese bildnerischen Mittel kommt ein zeitgenössisches Bewusstsein zum Ausdruck, das Auskunft über politische und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse geben kann. Nicht als Behauptung, sondern als Aufforderung zur aktiven Teilhabe sind die Arbeiten zu verstehen: zum Hinterfragen einer vorgegebenen Struktur und zum Vervollständigen oder Weiterführen eines Systems. In Roman Langs Werken spiegelt sich eine gänzlich anti-hierarchische, liberale und grunddemokratische Gesinnung wieder, die das gleichwertige und gleichberechtigte Nebeneinander propagiert und trotz vermeintlicher Makel zu einer ästhetischen Einheit bringt.

The gentle impression of changeability

by Lisa Felicitas Mattheis, Kunsthalle Emden

Are there recurring structures that are transferable to other conditions and disciplines and that always correspond to each other? Are systems volatile and changeable? Beginning an essay with these big questions may at first seem like an emotive deception in Roman Lang's technoid wall paintings. The painterly objects, sometimes referred to by the artist as shaped boards and thus alluding to the mostly polygonal picture panels made of commercially available wooden boards, seem abstract and without narration. Here, colored surfaces meet gray lines, acrylic paint meets textured spray paint, and hard edges meet the grain of natural and untreated wood. Inevitably, the carousel of associations begins to turn in mind: References to Constructivism, Concrete Art, Hard-Edge Painting, seem to resonate in harmonious polyphony as well as influences from graffiti, applied design and a certain do-it-yourself DIY store mentality. High and low stand confidently side by side. 

Subtly placed imperfections, however, deny a strict classification in an art-historical tradition: a supposed connecting line runs into nothing, a feigned illusionistic depth suddenly makes no sense; elsewhere a splash of paint has been left standing on the otherwise perfectly crafted object just as much as the fine pencil line of a preliminary drawing. What remains are irritation and open questions: why does the artist not work consistently and cleanly here? It is precisely at this point that the construct begins to falter. The works of Roman Lang do not want to claim a perfect illusionistic illusion or a completed perfection. On the contrary, the fragmentary and the processual are at the centre here and literally demonstrate the painting. Roman Lang dissects this classical art genre into its basic elements of background, surface, line, colour and reassembles them anew. 

The artist constructs without a fixed basic framework in the form of a fixed vocabulary. The works do not refer to external structures and do not visualize any concrete systemic occurrences; only the sampling of the classical artistic dualisms (positive/negative, line/area, artificial/natural) enables an abstract, yet open reference system. In different variations, this results in pictorial patterns, structures and systems that are characterized by their own immanent logic. At the same time, however, the gentle impression of changeability hovers over everything, with which the smallest modification can transform the "narrative" of the entire picture. 

Through these pictorial means, a contemporary consciousness is expressed that can provide information about political and social power relations. The works are not to be understood as assertions, but as an invitation to active participation: to question a given structure and to complete or continue a system. Roman Lang's works reflect a completely anti-hierarchical, liberal and fundamentally democratic attitude, which propagates the equal and equal coexistence and, despite supposed flaws, brings about an aesthetic unity.

Hirnflimmern

von Amely Deiss, Kunstpalais Erlangen

Siebeneinhalb Quadratmeter Multiplexplatte und dann Acryl und Lack und Spray und manchmal Buntstift. Soweit das Auge reicht sind da kantige Raster, und eigentlich sollen die ja Ordnung schaffen, aber bei Roman Lang geht da das Chaos los. Und gleichzeitig  halten sie die Formen, die er da konstruiert, auch fest, verhindern, dass sie in die tiefe Unendlichkeit fliegen, die sich hier eröffnet, einfach, weil der Maler das so will. Da ist ein bunter Urknall, ein Konfettifarbenregen, ein Formen-Stroboskob, das nach der ersten Pille schmeckt, nach dem dritten Kuss auf dem Dancefloor und genau so nach der politischen Sprengkraft eines schwarzen Quadrats.

Das ist keine Pop-Art und kein Konstruktivismus, aber das ist das, was dabei rauskommt, wenn man 1976 geboren wird, und sich für Malerei interessiert. Wenn man die Love Parade, die Beastie Boys und Blondie liebt, wenn man jegliche Avantgarde liebt, nicht nur die russische. Wenn man bereit ist, für das Recht auf eine Party in den Kampf zu ziehen, und gleichermaßen eine neue Gesellschaftsordnung herbeimalt.

Entscheid dich doch, Roman. Entweder. Oder. Pinsel oder Dose. Vergangenheit oder Gegenwart. Oder The Future. Roman Lang hat sich schon längst entschieden. Er macht analoge Post-Remix-Art, knallfarbenen Neo-Konstruktivismus. Seine Arbeiten sind Hirnfilmmern, sie zeigen den Moment, in dem sich Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis überlagen, Layer um Layer. Sie sind assoziativer Gedankenstrom, Geistesblitz, Flashback, Halluzination, Illusion. Erinnerungsfragmente sausen über seine Bildoberflächen wie geometrische Elemente eines Computerspiels.

Wenn da ein Grau auf dem Bild liegt, zum Beispiel, dann kann man sich sicher sein, dass das auch ein Neon ist. Neongelb. Neonorange. Neongrün. „Neon“, hat Roman Lang einmal gesagt, „ist die scharfe Schwester von grau.“ Das ist nicht nur ein schöner Satz, im Sinne von ästhetisch ausbalanciert, noch viel schöner ist, dass er wahr ist. Aber wer die scharfe Schwester von Grau will, muss auch das Grau wollen. Nur auf Grau kann Neon so schön wirken. Neon und Grau ziehen sich an, sie brauchen sich, sind Feinde und doch best friends, das Eine ist ohne das Andere nicht denkbar. Hat Jesus jetzt Judas gemacht? Oder Judas Jesus? Nur in der Dunkelheit leuchtet die Warnweste taghell. Graffiti brauchen Beton.

Roman Langs Bilder sind Dialektik in der Disko. Malt er wie ein manischer Mathematiker, der beim Lösen der Weltenformel „Ice, Ice Baby“ von Vanilla Ice hört, dann doch auf Bomfunk MC‘s „Freestyler“ wechselt, einen großen Schluck Energydrink aus der Dose nimmt, kurz überlegt, ob er eventuell einen Herzinfarkt bekommen könnte, oder einen epileptischen Anfall und dann wieder, ein paar Sprühdämpfe inhalierend, am goldenen Schnitt seiner Bilder weiterarbeitet?

Zwischenfrage: Wie sehr muss jemand die Malerei hassen, wenn er sie fast bis zur Auflösung vorantreibt?

Nächste Frage: Wie sehr muss jemand die Malerei lieben, wenn er mit ihr noch weiter und noch weiter und noch weiter geht?

Das sind nur auf den ersten Blick schwierige oder gegensätzliche Pole. In Wahrheit ist das ganz leicht. Roman Lang löst die Malerei nicht auf. Er zerlegt sie, wie ein Genetiker in seine einzelnen Bestandteile. Arrangiert sie neu. Und das Chaos, das wir sehen, für ihn ist das die einzig wahre Ordnung. Und wir sehen ihn, er jagt mit dem Schmetterlingsnetz durch die Kulturlandschaft. Immer auf der Jagd nach dem prächtigsten Zitronenfalter des Universums.

Mit großen Augen bleibt er stehen. Er findet Flyer von Partys, Konzerten, Ringelpiezen in Kleinstadt-Schuppen. Auch die zerschneidet er, in der Hoffnung, in der neuen Anordnung der Puzzleteile seiner Collagen, ein neues Bild zu finden. Und das tut er. Seine Erkenntnis ist: jedes kleinste Teil hat das Potential, die Wahrscheinlichkeit, die Grundvoraussetzung, ein große Ganzes zu ergeben. Drei Zitatfragmente ergeben einen Satz, dreißig den perfekten Song.

Ein Leben im Pop, der ewigen Pubertät: Dem Zustand, mit über dreißig noch Bedeutung in Belanglosigkeit zu sehen. Die Behauptung aufzustellen, der Easy-Listening-Rhythm&Blues „This Magic Moment“ von den Drifters wäre genauso tief wie Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Den Beweis zu wagen, „Geschwisterliebe“ von den Ärzten ist am Ende doch das bessere „Lolita“. Sich nackt auf ein Podest zu stellen, und zu sagen, schaut mich an, so macht man Mode.

Roman Langs ungegenständliche Arbeiten erzählen von diesem Zustand. Zuerst ist da Wahnsinn, dann Auflösung jeglicher Bedeutung, dann die Erregung. Neon ist Erregung. Zwei Linien, die aufeinander zulaufen, sind Erregung.  Das eigene Blut rauscht mit 100.000 Kilopascal Druck durch die Gefäße. Schwindelig ist einem und gleichzeitig fühlt man sich so lebendig wie nie zuvor. Nachdem sich Kasimir Malewitsch von der Gegenständlichkeit verabschiedet hatte, sagte er: „Die Erregung ist eine kosmische Flamme, die von dem lebt, was gegenstandslos ist.“ Und weiter: „Die Erregung siedet wie geschmolzenes Kupfer in einem Kessel in einem reinen, gegenstandslosen Zustand. Die Verbrennung von Erregung ist die erhabene weiße Kraft, die Gedanken in Bewegung setzt. Erregung ist wie die Flamme eines Vulkans, die ohne das Ziel der Bedeutung in einem Menschen brennt.“

Kaum etwas ist größer als das menschliche Verlangen nach Bedeutung. Die Gegenstandslosigkeit ist nichts Anderes als ein Angriff auf die Menschheit. Die Gegenstandslosigkeit verunsichert, sie bringt den Betrachter und seine Welt zum Einsturz. Sie sagt: Deinen Gott gibt es nicht. Aber woran sollst ich denn glauben? Sie sagt: Es gibt nichts zu verstehen. Und du sagst: Ich verstehe wirklich nichts. Und das ist der Punkt, wo der Betrachter, den kleinen Schritt auf dem Weg zur neuen Bewusstseinsstufe selber gehen muss.

Nichts zu verstehen, bedeutet, alles zu verstehen. Erst wenn man aufhört, in Wolken Hunde oder Mao Tse Tung zu sehen, sieht man alles. Wer sich frei, vom Gegenstand, vom Körper macht, wer nur noch Gedanke und Gefühl und Form und Farbe ist, der ist wirklich frei. Wie ein Geist, ein Spirit, wie die Erkenntnis selbst.

In Roman Langs Bilder fällt man. Man wird gestürzt wie aus dem 104. Stockwerk. Die Welt verschwimmt im freien Fall, sie löst sich auf. Wir werden selbst zum Universum. It’s not the fall that hurts, it’s when you hit the ground.

Brain Flickers

by Amely Deiss, Kunstpalais Erlangen

Seven and a half square meters of multiplex panel, and then acrylic and lacquer and spray paint, and sometimes colored pencil. There are angular grids as far as the eye can see, and while they usually should achieve order, with Roman Lang, this is where chaos begins. At the same time, they retain the forms that he constructs, preventing them from flying into the depths of infinity that open up here, simply because this is how the painter wants it. It is a colorful big bang, a strobe light of forms. Simultaneous disarray and cool analysis, hinting at the explosive political power of a black square. Roman Lang’s art isn’t pop art, nor is it constructivist, rather, it is the result of being born in 1976 and interested in painting. When escape from the Beastie Boys and Blondie is impossible, and you feel drawn to every form of the avant-garde, not just the Russian one. When you’re equally ready to fight for your right to party and create a new social order through painting. Constant decisions. Either. Or. Brush or spray can. Past or present. Or the future. Roman Lang has long since decided. He creates analog post-remix art, vibrantly colored neo-con- structivism. His works are brain flickers, revealing the moment where long- and short-term memories overlap, layer by layer. They are associative streams of thought, flashes of inspiration, flashbacks, hallucinations, illusions. Fragmented memories sweep across the surfaces of his paintings like geometric ele- ments in a computer game. If for example, there is a grey in the painting, then you can be sure that there is also neon. Neon yellow. Neon orange. Neon green. “Neon,” Roman Lang once said, “is grey’s hot sister.” It’s not just a beautiful statement, in the sense of aesthetic balanc- ing, what is even more beautiful is that it’s true. But anyone who desires the “hot sister” of grey must also desire grey. Only with grey, is it possible for neon to be so attractive. Neon and grey attract each other, they need each other, they are enemies and still best friends, the one is inconceivable without the other. Only in darkness do reflectors glimmer brightly. Graffiti needs concrete. Roman Lang paints like a manic mathematician who repeatedly changes the style of music while solving the theory of everything, only briefly considering whether he might eventually have a heart attack or an epileptic seizure, and then, inhales a few fumes from the spray, and continues working on his golden ratio.

An intermediary question: How much does one have to hate painting if he pushes it to the edges of dissolution?

Next question: How much does one have to love painting, if he progresses further and further and further with it?

These are only opposing poles at first glance. In truth, everything is quite simple. Roman Lang does not dismantle painting. He divides it like a geneticist into its individual compo- nents. Arranges them anew. And the chaos that we see is the only correct order for him. He stands still, wide-eyed. He finds flyers from parties, concerts, dances in small town dives. He cuts them up with the hope of finding a new image through a new configuration of the puzzle pieces that make up his collages. And this he does. His realization: every element, no matter how small, has the potential, the possibility, the basic prerequisite, to produce a great whole. Three fragments from quotations form a complete sentence, thirty the perfect song. Roman Lang’s works narrate this condition: First there is madness, then the dissolution of all meaning, then excitement. Neon is excitement. Two lines running towards each other are excitement. One’s blood rushes through their vessels with 100,000 kilopascals of pressure. You feel dizzy and at the same time more alive than ever before. After Kazimir Malevich departed from representationalism, he said, “Excitement is a cosmic flame that lives on that which is objectless.” And continued, “Excitement, like molten copper in a blast furnace, seethes in a state that is pure objectless. Excitement-combustion is the supreme white force that sets thought in motion. Excite- ment is like the flame of a volcano that flickers within a human being without the goal of meaning.” There is little greater than the human desire for meaning. Objectlessness is nothing other than an attack on mankind. Objectlessness is unsettling; it breaks down the viewer and his world. It says: Your god doesn’t exist. But what should I believe in then? It says: There is nothing to understand. And you say: I genuinely don’t understand. And that is the point at which the viewer must take a small step on the path towards a new level of consciousness. Understanding nothing means understanding everything. He who is free from the object, from the body, who is only thought and feeling and form and color, he is truly free. Like a spirit, like knowledge itself. One falls into Roman Lang’s paintings. One is thrown from the 104th floor. The world blurs in free fall, dissolves.